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DIE Digitalisierung ist nicht erst seit der Corona-Krise zu meinem persönlichen Unwort geworden. Dabei gibt es sie ja noch gar nicht so lange, DIE Digitalisierung, oder? Nach einem über Jahrzehnte dauernden Dornröschenschlaf scheint nun plötzlich alles ineinander zu fliessen, logisch verknüpft zu einem einzigen grossen «Wow»! Kein Tag vergeht, ohne von der Digitalisierung zu lesen oder Propheten wortgewaltig davor warnen oder predigen zu hören – Digitalisierung hüben wie drüben. Ich mag’s nicht mehr – der Digitalisierungsüberfluss ist zum Überdruss geworden. Dabei soll ja alles einfacher werden, denn die Digitalisierung erfasst alle Bereiche der Gesellschaft: den Alltag, betriebliche Prozesse und Werkzeuge, das Gesundheitssystem, ebenso Banken, Versicherungen, Treuhänder, … schlicht alles, was einem bisher mitunter als mühsam schien oder zuwider war, wird Digitalisierung-sei-Dank automatisiert oder abgeschafft. Schaffen wir uns bald selber ab?
Entwicklungen in exponentieller Zeit
Digitalisierung ist kein Hokuspokus, sondern bloss die Umwandlung analoger Werte in digitale Formate. Doch das Gewohnheitsrecht dominiert und so ist die Digitalisierung zum volkstümlichen Sammelbegriff geworden, für alles, was mit dem ganzheitlichen Umbruch in exponentieller Zeit zu tun hat. Nach langen Jahren linearer Entwicklungsschritte, die meist absehbar und planbar waren, verläuft die Entwicklungskurve heute innert kürzester Zeit steil nach oben. Vieles verändert sich rasend schnell, die Überforderung ist gross und Mithalten gerät zur alltäglichen Herausforderung, der nicht alle gewachsen sind. Die Angst, nicht mehr zu genügen, am Ende gar nicht mehr gebraucht zu werden, ist lähmend. Alle sind davon betroffen, es gibt keine Elite.
Homo phlegmaticus
Glaubt man den Digitalisierungsmärchen, so wird die Welt also bald eine bessere sein, und alles läuft glatt, im hohen Takt unendlich vieler Algorithmen. Vom Menschen gemachte Handlungsvorschriften steuern Roboter und Prozesse, die all dies für uns tun, wozu wir nicht (mehr) gemacht sind, und künstliche Intelligenz nimmt uns das Denken ab. Bleiben uns am Ende bloss noch nicht-digitalisierte Krümel übrig, Dinge, die nicht von Robotern übernommen werden? Putzen? Service? Vor einiger Zeit habe ich im Radio gehört, dass in Japan bereits intelligente Roboter im Pflegebereich eingesetzt werden. Das Nichtstun ist uns gewiss. Deal?
Verdrängen ist ein mögliches Konzept oder Schlendern lassen (wir machen erst mal, und schauen dann weiter). Konzept-, Ideen-, Ratlosigkeit stärken das Digitalisierungsungetüm, hinter dem sich’s gut verstecken lässt, anstatt Verantwortung zu übernehmen. So schaffen sich Führungsriegen gleich selber ab und überlassen Teams und Mitarbeiter sich selbst. Sie lassen die Herausforderungen ziehen und delegieren Verantwortung ab, ins Reich der digitalen Verheissungen, denn man verharrt lieber im bekannten Leid, als das unbekannte Glück zu wagen.
Verantwortung für sich und andere übernehmen
Will man dem Überdruss entkommen, so sind Veränderungen gefragt, die mit handfester Arbeit verbunden sind. Das lässt sich nicht versionieren, wie Industrialisierung 3.0, Revolution 4.0, und wie sie alle heissen. Wie wär’s zur Abwechslung mit «Verantwortung übernehmen 1.0»? Soviel ist sicher: die Digitalisierung ist nicht bloss technischer Fortschritt. Explizit nicht-digitale Werte spielen endlich wieder eine zunehmend wichtige Rolle. Ein gutes Gespräch lässt sich nicht digitalisieren. Ebenso wenig wie Mitarbeitende zu führen, zu begeistern, zu motivieren oder auch der Umgang mit sich selbst.
Technologische Fortschritte werden liberalisiert und so wird auch auf erfrischende Weise sichtbar, was die primäre Aufgabe des Chefs ist: Führungsarbeit. Der Leistungsausweis eines Chefs misst sich nicht an der Anzahl seiner Investitionen und der Kreation neuer Begriffe mit Versionsnummern. Seine Persönlichkeit ist gefragt. Selbstreflexion heisst das Zauberwort und steht ganz am Anfang. Die Erkenntnisse daraus können schmerzlich sein, sind aber die beste Anschiebehilfe zur Wende. Verantwortung übernehmen bedeutet auch Mut zu haben, sich den neuen Technologien zu stellen, hineinzuspringen ins Gewühl und auch keine Angst davor zu haben, zu scheitern. Ein Einzelner wird nicht mehr alles können und wissen. Das Kollektiv gewinnt! Somit ist auch klar, dass Führungsarbeit und Unternehmensentwicklung Eins sind.
Die Chef-Etage darf die Brücke nicht verlassen, sie ist geforderter denn je. Bestehende Regelwerke selbstkritisch zu hinterfragen und sie ggf. abzuschaffen oder zu ersetzen gehören ebenso zu deren zentralen Aufgaben, wie Freiräume zu schaffen, damit sich Mitarbeitende entfalten können. Sie tun es dann vor allem, wenn man sie führt und wenn sie die Leidenschaft und das Feuer im Chef erkennen, für das was er tut und für welche Werte er einsteht. Das ist ansteckend. Das Rezept ist simpel: Wer Mitarbeiter führen will, muss Menschen mögen und sie begeistern und ermutigen können.
DIE Digitalisierung: langsam freunde ich mich wieder mit ihr an ;-)
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